17

 

Dylan hockte beim Fußende des Bettes auf dem Boden und sammelte Spiegelscherben ein, als sich leise die Flügeltüren öffneten. „Dylan?“

Es war die Frauenstimme, die sie vor einer Minute schon leise mit Rio und einem anderen Mann im Nebenraum hatte sprechen hören.

Dylan sah auf und spürte die plötzliche Wärme eines besorgten blaugrünen Blickes auf sich.

Die schöne junge Frau lächelte sie an. „Hi. Ich bin Tess.“

„Hi.“ Dylan räumte eine Scherbe zur Seite und bückte sich nach der nächsten.

„Rio bat mich, nach dir zu sehen.“ Tess trat in den Raum, sie trug eine kleine schwarze Ledertasche. „Bist du okay?“

Dylan nickte. „Es ist nur ein Kratzer.“

„Rio fühlt sich schrecklich deswegen. Er hat schon eine ganze Weile ... Probleme. Seit der Explosion in der Lagerhalle im letzten Sommer.

Er hat Glück, dass er überhaupt noch am Leben ist.“

Oh Gott. Das erklärte die Brandnarben und Splitterwunden. Eine Explosion hatte all diese Verletzungen angerichtet? Da war er wirklich mitten in der Hölle gewesen.

Tess sprach weiter. „Wegen seines Hirntraumas hat er noch ab und zu Blackouts. Dazu noch starke Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen ... nun, du hast ja selbst gesehen, es ist kein Zuckerschlecken mit ihm. Er wollte dich jedenfalls nicht verletzen, das kann ich dir versichern.“

„Mir geht's gut“, sagte Dylan, die sich über den Kratzer auf ihrer Wange keine weiteren Gedanken machte. „Ich habe versucht, ihm zu sagen, dass es nicht schlimm ist. Der Schnitt blutet nicht mehr.“

„Da bin ich aber froh“, sagte Tess und stellte die Arzttasche auf der Kommode ab. „Rio hat schon befürchtet, es wäre schlimmer. Wie er es mir am Telefon beschrieben hat, dachte ich schon, ich müsste mindestens ein halbes Dutzend Stiche nähen. Aber ein Desinfektionsmittel und ein Pflaster sollten genügen.“

Sie ging hinüber, wo Dylan die Spiegelscherben zusammengetragen hatte. „Hier - lass mich dir dabei helfen.“

Als sie näher kam, bemerkte Dylan, dass Tess' Handfläche leicht auf der kleinen Rundung ihres Bauches lag. Sie war schwanger. Noch nicht lange, so wie es aussah, aber sie hatte so ein inneres Strahlen an sich, das keine Zweifel zuließ.

Und auf der Hand, die schützend auf dem Frühstadium eines Babybauches lag, war ein kleines Muttermal zu sehen. Dylan konnte nicht anders, sie starrte die scharlachrote Träne in der Mondsichel auf Tess' rechter Hand an - genau das gleiche Muttermal, das Dylan im Nacken trug.

„Du wohnst hier?“, fragte Dylan. „Mit ... ihnen?“

Tess nickte. „Ich bin mit Dante zusammen. Er ist ein Ordenskrieger wie Rio und die anderen, die hier im Hauptquartier leben.“

Dylan zeigte auf das winzige Muttermal zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. „Bist du ... seine Stammesgefährtin?“, fragte sie und erinnerte sich an den Begriff, den Rio verwandt hatte, nachdem er Dylans Muttermal gesehen hatte. „Du bist mit einem von ihnen verheiratet?“

„Dante und ich haben uns letztes Jahr zusammengetan“, sagte Tess. „Wir sind eine Blutsverbindung eingegangen und dadurch auf eine Weise miteinander verbunden, die noch tiefer geht als die Ehe. Ich weiß, dass Rio dir ein wenig über den Stamm erzählt hat - wie sie leben, woher sie kommen. Nach dem, was eben mit ihm passiert ist, hast du jetzt sicher keine Zweifel mehr, was sie sind.“

Dylan nickte, immer noch ungläubig, dass auch nur etwas von alldem wirklich wahr sein konnte. „Vampire.“

Tess lächelte sanft. „Das habe ich zuerst auch gedacht. Es ist nicht so einfach, sie zu definieren. Der Stamm ist eine komplexe Spezies in einer komplexen Welt voller Feinde. Das Leben kann sehr schwierig werden für Stammesvampire und die von uns, die sie lieben. Und die wenigen Männer, die sich dem Orden geweiht haben, bringen sich jede Nacht in Lebensgefahr.“

„War es ein Unfall?“, platzte Dylan heraus. „Die Explosion, bei der Rio verletzt wurde ... war es irgendein schrecklicher Unfall?“

Ein schmerzlicher Ausdruck huschte über das Gesicht der anderen Frau. Sie starrte Dylan lange an, als wüsste sie nicht recht, was sie sagen sollte. Aber dann schüttelte sie leicht den Kopf. „Nein. Es war kein Unfall. Jemand, der Rio nahestand, hat ihn verraten. Die Explosion hat sich bei einer Razzia in einer allen Lagerhalle in der Innenstadt ereignet. Rio und der Rest des Ordens sind in einen Hinterhalt geraten.“

Dylan sah hinab und bemerkte, dass sie den zerbrochenen Bilderrahmen anstarrte, den Rio bei seinem Wutanfall durchs Zimmer geschleudert hatte. Vorsichtig hob sie ihn auf und drehte ihn um. Sie wischte das spinnwebartig zersplitterte Glas von dem Farbfoto und starrte hinunter auf das Lächeln, das die exotischen dunklen Augen nicht ganz zu erreichen schien.

„Eva“, bestätigte Tess. „Sie war Rios Stammesgefährtin.“

„Aber sie hat ihn verraten?“

„Das hat sie“, sagte Tess nach einer langen Pause. „Eva traf eine Abmachung mit einem Feind des Ordens - einem mächtigen Vampir, er war der Bruder von Lucan, dem Anführers des Ordens. Im Austausch für Informationen, die diesem Vampir helfen würden, Lucan zu töten, was Eva genauso sehr wollte wie Lucans Bruder, wurden ihr zwei Dinge zugesichert. Dass Rio am Leben bleiben würde und dass er so schlimm verwundet werden würde, dass er nie wieder in der Lage sein würde, zu kämpfen.“

„Himmel“, keuchte Dylan. „Sie hat also bekommen, was sie wollte?“

„Nicht ganz. Der Orden geriet in den Hinterhalt, durch die Informationen, die Eva geliefert hatte. Aber der Vampir, mit dem sie verhandelte, hatte keinerlei Absicht, sich an seinen Teil der Abmachung zu halten. Er schickte eine Bombe hinein. Die Explosion hätte sie alle töten können, aber ironischerweise wurde Rio am schwersten getroffen.

Und danach musste er erfahren, dass es Eva gewesen war, die all das verursacht hatte.“

Dylan fehlten die Worte. Sie versuchte, die Tragweite dessen zu erfassen, was all das für ihn bedeutet haben musste - nicht nur den physischen Schmerz seiner Verletzungen, sondern auch die emotionale Wunde, die ihm ein solcher Verrat geschlagen haben musste.

„Ich hab sie gesehen.“ Dylan sah zu Tess hinüber und bemerkte, wie ihr Stirnrunzeln sich verstärkte, in ihrem fragenden Blick lag leichte Verwirrung. Dylan kannte diese Frau erst seit wenigen Minuten und war es nicht gewohnt, sich anderen mitzuteilen, und schon gar nicht, von diesem Geheimnis zu erzählen, das sie so anders machte als andere Menschen. Aber etwas in Tess' freundlichen Augen sagte ihr, dass sie in Sicherheit war. Sie spürte eine plötzliche Zuneigung und wusste, sie hatte eine Freundin gefunden. „Die Toten kommen manchmal zu mir - nun, Frauen tun das. Frauen, die nicht mehr am Leben sind. Eva kam vor ein paar Tagen, als ich mit Freundinnen auf einem Berg bei Prag eine Bergwanderung gemacht habe.“

„Sie ... sie ist zu dir gekommen?“, fragte Tess vorsichtig. „Wie meinst du das?“

„Ich habe ihren Geist gesehen, könnte man sagen. Sie hat mich zu einer verborgenen Höhle geführt. Ich wusste es nicht, aber Rio war da drin. Sie - Eva - hat mich hingeführt und mich gebeten, ihn zu retten.“

„Mein Gott.“ Langsam schüttelte Tess den Kopf. „Weiß er das?“

Dylan warf einen bedeutsamen Blick auf die Trümmer, die ihr zu Füßen lagen. „Ja, er weiß es. Als ich es ihm gesagt habe, ist er endgültig ausgerastet.“

Tess' Blick war entschuldigend. „Was Eva angeht, hat er eine Menge Wut in sich.“

„Verständlich“, erwiderte Dylan. „Ist er okay, Tess? Ich meine, wenn man bedenkt, was er alles durchgemacht hat, wird Rio ... wieder in Ordnung kommen?“

„Ich hoffe es. Das tun wir alle.“ Tess legte den Kopf leicht schief und musterte sie. „Du hast keine Angst vor ihm.“

Nein, das hatte sie wirklich nicht. Inzwischen platzte sie fast vor Neugier auf ihn und wusste nicht genau, was für Absichten er mit ihr hatte, aber Angst hatte sie nicht vor ihm. So verrückt es auch war, selbst nachdem sie ihn in dem Zustand gesehen hatte, in dem er sich hier in diesem Zimmer noch vor Kurzem befunden hatte - Dylan hatte keine Angst. Allein der Gedanke an Rio löste so einiges in ihr aus, aber Angst war nicht darunter. „Sollte ich denn?“

„Nein“, sagte Tess, ohne zu zögern. „Was ich meine, ist, das alles wird nicht leicht für dich sein. Ich selbst habe mich weiß Gott schwergetan, als ich zum ersten Mal all dieses Gerede hörte von Blut und Fangzähnen und Krieg.“

Dylan zuckte die Schultern. „Ich schreibe für ein Boulevardblatt.

Glaub mir, ich habe schon jede Menge Bizarres gehört. Mich wirft so leicht nichts um.“

Tess lächelte, aber sie wandte schnell wieder den Blick ab, und das sprach Bände, auch wenn sie die Worte nicht aussprach: Das war keine bizarre Story in einem Boulevardblatt. Das war die Wirklichkeit.

„Was war in dieser Höhle, Tess? Anscheinend war es eine Art Gruft - eine Überwinterungskammer, so hat Rio sie genannt. Aber was zur Hölle war da drin? Ist dort oben in den Bergen irgendetwas ausgebrochen?“

Tess hob den Blick, schüttelte aber nur leicht den Kopf. „Ich glaube, das willst du lieber nicht wissen.“

„Doch, natürlich will ich das“, beharrte Dylan. „Was immer es war, offensichtlich hat Rio es für wichtig genug gehalten, um mich deswegen zu entführen und einzusperren, damit ich niemandem erzählen kann, was ich gesehen habe.“

Tess schwieg beharrlich, und Dylans Magen ballte sich zu einem angstvollen, harten Knoten zusammen. Die Stammesgefährtin wusste, was in dieser Höhle gewesen war, und ganz offensichtlich handelte es sich um etwas, vor dem sie große Angst hatte.

„Tess, irgendetwas schlief in diesem verborgenen Sarkophag - so wie es aussah, würde ich sagen, dass es sich sehr lange dort verkrochen hat. Was für eine Kreatur war ... oder ist es?“

Tess stand auf und ließ ein paar Spiegelscherben in einen Abfalleimer neben dem Schreibtisch fällen. „Lass mich deinen Schnitt ansehen. Wir sollten ihn säubern und ein Pflaster draufmachen, damit du keine Narbe bekommst.“

 

Eingesperrt in seinem Käfig aus UV-Strahlen warf der Alte den Kopf zurück und stieß ein höllisches Brüllen aus. Blut tropfte von den riesigen Fangzähnen und auf den breiten nackten Brustkorb hinunter, der in den grellen Farben seiner Dermaglyphen pulsierte.

„Zieht diese verdammten Fesseln fest“, bellte der Vampir, der ihn gefangen hielt. Er redete zu seinen Lakaien durch ein kleines Mikrofon im Überwachungsraum vor der Zelle. „Und räumt die Sauerei da drin weg, verdammt noch mal.“

Die elektronisch gesteuerten Fesseln fuhren sich aus wie Schlangen und fingen die schweren Arme und Beine des Alten ein. Auf Knopfdruck zogen sie sich fest an und rissen ihn beinahe von den Füßen. Er kämpfte vergeblich dagegen an, aber er würde nicht fliehen können. Als er so hilflos um sich schlug, zog er die Lippen zurück und bellte wieder. In seinem sprachlosen Aufheulen lag unverkennbare Wut, als sein riesenhafter Körper von Titan und Stahl in Industriequalität gebändigt wurde.

Er war immer noch erregt von der Kopulation, die auf so grausame Weise schiefgegangen war. Immer noch dürstete er wild nach Blut und nach dem Körper der leblosen jungen Frau, die nun hastig - und posthum - aus dem Käfig befreit wurde.

Die Stammesgefährtin war übel zugerichtet worden. Harte Klauen und Fänge hatten überall ihre Spuren hinterlassen, und sie war schon tot gewesen, bevor man den Alten von ihr hatte herunterziehen können.

Sie war nicht die Erste, ganz im Gegenteil. In den fast fünf Jahrzehnten, seit der Alte in seiner Überwinterungskammer geweckt worden und in die Macht seines Hüters übergegangen war, hatten sich seine Fütterung und die Zuchtversuche als äußerst kostspieliges, entmutigendes Unternehmen erwiesen.

Trotz all der Technologie und der finanziellen Mittel, die zu seiner Verfügung standen, existierte kein wissenschaftliches Verfahren, das den primitiven Paarungsakt ersetzen konnte, der vor Kurzem in der Zelle stattgefunden hatte. Direkte Kopulation, Fleisch auf Fleisch, war die einzig praktikable Möglichkeit, wie der Samen des Alten empfangen werden konnte, so wie es auch für den Rest des Stammes galt. Aber Sex war nur ein Teil des Prozesses. Im exakten Augenblick der Ejakulation musste ein Blutaustausch stattfinden, damit vampirisches Leben sich im Körper einer Stammesgefährtin einnisten konnte.

Normalerweise genossen die Paare, die sich ein Kind wünschten, diesen bewussten sinnlichen Akt, um neues Leben zu schaffen. Nicht jedoch in diesem Käfig. Hier unten, mit der wilden außerirdischen Kreatur, die vor Hunger, Schmerz und Gefangenschaft wahnsinnig war, war die Empfängnis ein Spiel auf Leben und Tod. Todesopfer wie das von heute waren einkalkuliert.

Aber es hatte auch Erfolge gegeben, und die machten alle Risiken wett. Für jede Stammesgefährtin, die im Prozess getötet wurde, schafften es zwei lebendig aus der Zelle heraus ... und trugen in sich den Samen einer mächtigen, neuen Generation.

Trotz des verlorenen Tages lächelte der Hüter des Alten in sich hinein.

Die mächtige neue Generation wuchs bereits im Geheimen heran.

Und ihre Loyalität gehörte nur ihm allein.

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